Die Liebe wird von den Dichtern neu entdeckt
von Theoretikern aber verleugnet und verbogen


Was lieben heißt.
Es heißt, aus Seufzern ganz bestehn und Tränen,
es heißt, aus Treue ganz bestehn und Eifer,
es heißt, aus nichts bestehn als Phantasie,
aus nichts als Leidenschaft, aus nichts als Wünschen,
ganz Anbetung, Ergebung und Gehorsam,
ganz Demut, ganz Geduld und Ungeduld,
ganz Reinheit, ganz Bewährung, ganz Gehorsam.

   Shakespeare (1564-1616), Wie es euch gefällt,1599,
   Akt V, Szene II, Übersetzung Schlegel und Tieck,
   Originaltext auf mehrere Sprecher verteilt, siehe Glossar



So ist die Lieb! So ist die Lieb!
Mit Küssen nicht zu stillen:
Wer ist der Tor und will ein Sieb
Mit eitel Wasser füllen?
Und schöpfst du an die tausend Jahr,
Und küssest ewig, ewig gar,
Du tust ihr nie zu Willen.

Die Lieb, die Lieb, hat alle Stund
Neu wunderlich Gelüsten;
Wir bissen uns die Lippen wund,
Da wir uns heute küßten.
Das Mädchen hielt in guter Ruh,
Wies Lämmlein unterm Messer;
Ihr Auge bat: nur immer zu,
Je weher, desto besser!

So ist die Lieb, und war auch so,
Wie lang es Liebe gibt,
Und anders war Herr Salomo,
Der Weise, nicht verliebt.

   Eduard Mörike (1804-1875), Nimmersatte Liebe, 1827